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Aus dem Stadtarchiv

Vor 650 Jahren: Frauenfeld wird zentraler Gerichtsort im Thurgau

Am 19. Juni 1374 schloss der Thurgauer Landvogt, Ritter Johann von Seen mit der Stadt St. Gallen einen Vertrag über die Aburteilung von Delinquenten, die nach damaligem Verständnis schwere Verbrechen begangen hatten. Diese sollten im Normalfall nach Frauenfeld überstellt und am Gerichtstag vom Landvogt zur Rechenschaft gezogen werden. Die Vertragsurkunde bezeugt somit zum ersten Mal Frauenfeld als zentralen Gerichtsort. Die Stadt an der Murg hatte sich auf den langen geschichtlichen Weg zur Hauptstadt des Kantons Thurgau begeben.

Durch den Tod des Grafen Hartmann IV. von Kyburg am 27. Nov. 1264 starben die Kyburger im Mannesstamm aus. Hartmann hatte eine Schwester namens Heilwig, deren Sohn Graf Rudolf IV. von Habsburg war. Dieser konnte seinen Erbanspruch durchsetzen und erlangte so die Landgrafenwürde und die kyburgischen Besitzungen in der Ostschweiz. Nachdem der Habsburger 1273 als Rudolf I. zum König des Deutschen Reiches gewählt worden war, ernannte er für die Verwaltung des Thurgaus einen Vizelandgrafen, Freiherr Hermann von Bonstetten. In dieser Stellung übte von Bonstetten die Funktion des Landvogtes, d.h. des obersten Richters aus. Das Landgericht tagte an mehreren Orten im Thurgau und zwar im Freien. Dabei kam eine «Laube» zur Anwendung, ein überdachtes hölzernes Gerüst, auf dem der Richter und seine Schöffen gut sichtbar und geschützt vor Regen sassen. In Frauenfeld befand sich dieser Gerichtsplatz etwas ausserhalb der Stadtmauern, vermutlich im Gebiet des heutigen Kurzdorf. Die Strassenbezeichnung «Laubgasse» leitet sich davon ab. Nicht weit davon liegt das Galgenholz, wo die Hinrichtungen stattfanden.

Wenige Male im Jahr kam der Landvogt persönlich nach Frauenfeld und übte die hohe Gerichtsbarkeit, den sogenannten Blutbann aus. In den 1370er Jahren war Ritter Johann von Seen (geschrieben «Sehein», bei Winterthur) Landvogt im Thurgau. Auf Geheiss des Thurgauer Landesherrn Herzog Leopold III. von Österreich schloss Johann von Seen am 19. Juni 1374 mit der Stadt St. Gallen ein Abkommen über die Bestrafung von «schädlichen Leuten», worunter man Diebe, Strassenräuber, Mörder, Totschläger und Ketzer verstand. Weil der Ehre eines Mannes im Mittelalter eine hohe Bedeutung zukam, zählte auch die Ehrverletzung zu den schweren Freveln. Alle diese Verbrechen wurden mit dem Tode, der Blendung oder der Ächtung bestraft.

St. Gallen war damals im Begriff, sich allmählich aus der Herrschaft des Klosters St. Gallen zu lösen, besass jedoch selbst noch nicht die Blutgerichtsbarkeit. Die Stadt suchte deshalb eine machtvolle Persönlichkeit, die dieses Recht an ihrer Stelle ausüben konnte. Der Vertrag sah vor, dass die Stadt St.Gallen gefangene Verbrecher für die Verurteilung dem Landvogt überstellen würde. Sollte der Vogt selber nach St. Gallen kommen müssen, so hatte ihm die Stadt 4 Gulden Entschädigung nebst Reisespesen für ihn und einige berittene Soldaten zu vergüten. Wog das begangene Verbrechen nicht so schwer, so waren die St. Galler frei, den Übeltäter selber zu bestrafen, waren dann aber dem Landvogt trotzdem 4 Gulden schuldig.

Neben dem Blutgericht gab es in Frauenfeld zwei Niedergerichte, eines für den Rechtsbezirk innerhalb der Stadtmauern und eines für das Amt Frauenfeld. In den Niedergerichten nahmen «advocati» genannte Richter die Rechtsprechung wahr. Sie behandelten Fälle von Flur- und Waldfrevel, Streitigkeiten über Güterbesitz und Geldschulden sowie Raufhändel. Diese wurden mit Bussen bestraft. Das Niedergericht des Amtes Frauenfeld umfasste zu Beginn des 14. Jahrhunderts die zum Kloster Reichenau gehörenden Dörfer Müllheim, Eschikofen, Mettendorf, Wellhausen, Erchingen (Kurzdorf), Lustdorf, Horgenbach und Gachnang, die habsburgischen Höfe Osterhalden und Schwarzenbach, die freien Bauern in Wetzikon, Widen, Dietingen, Neunforn und Eidberg bei Seen-Winterthur sowie das der Augustinerprobstei Ittingen gehörige Dorf Uesslingen.

Das Stadtgericht hingegen ist seit 1296 bezeugt. 1312 bestand es aus dem durch die Landesherrschaft eingesetzten Stadtvogt und einem aus drei Mitgliedern bestehenden Rat. Bis 1368 vermochte das Gericht, seine ursprünglich niedergerichtlichen Kompetenzen auf Frevel- und Blutgerichtsfälle auszudehnen. Die Gerichtssitzungen fanden neben der Stadtkirche auf offener Strasse statt. Als Herzog Friedrich IV. während des Konstanzer Konzils 1415 als Fluchthelfer von Papst Johannes XXIII. durch Kaiser Sigismund geächtet wurde, sank die Bedeutung der österreichischen Landesherrschaft über das Thurgau. Die Stadt Frauenfeld fing an, sich zu verselbständigen. Spätestens im 2. Viertel des 15. Jahrhunderts wählte die Bürgerschaft den Dreierrat nach eigenem Gutdünken. Dieser wurde von 8-9 Bürgern zum Kleinen Rat ergänzt, der dem Dreierrat gehorsam schuldete. 1460 ging der Thurgau in die Hand der eidgenössischen Orte über. 1513 wurde das alte Rathaus erbaut und ab 1515 sind die Stadtgerichtsprotokolle im Bürgerarchiv überliefert.

Der Beitrag wurde von Stadtarchivar Stephan Heuscher verfasst.

Zeichnung der Stadt Frauenfeld von 1548
Älteste Ansicht der Stadt Frauenfeld in der 1548 veröffentlichten Chronik der Alten Eidgenossenschaft des Kartografen und Historikers Pfarrer Johannes Stumpf (1500-ca. 1578).